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Mittwoch, 20. August 2008

Kulturen im Austausch

Vor über 80 Jahren begannen deutschstämmige Mennoniten in Paraguay einzuwandern, sie entdeckten den unwirtlichen Chaco als ihr „gelobtes Land“. Verfolgung und Intoleranz gegenüber ihrer Kultur und Religion hatte sie in dieses Exil getrieben. Die hiesige Regierung war froh, dass sich jemand diesem unwirtlichen und vermeintlich ungenutzten Teil ihres Landes annahm, und gewährte den Pionieren Sonderrechte. Aber die Mennoniten waren keinesfalls allein, und sicher nicht die ersten im Chaco. Mindestens neun verschiedene ethnische Gemeinschaften lebten und leben in dem Gebiet zwischen Brasilien, Bolivien und Paraguay – bis heute. Das Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften gestaltete sich von Anfang an schwierig. Es kam immer wieder zu Zusammenstößen zwischen den verschiedenen indigenen Gruppen untereinander, aber auch mit den Mennoniten.
Noch immer leben im zentralen Chaco diverse indigene Ethnien, dazu kamen die Mennoniten, später mehr und mehr Paraguayer und jetzt auch Brasilianer. Es ist an der Zeit, sich diesem Austausch der Kulturen zu widmen, beschloss Wilmar Stahl, Anthropologe aus Filadelfia. Der Mennonit hatte in den USA studiert, bevor er sich zusammen mit der ASCIM, der 1973 gegründeten Indianisch-Mennonitischen Vereinigung, ans Werk machte. Jetzt hat er seine Ergebnisse in einem Buch veröffentlicht. „Culturas en Interacción“ heißt das spanisch-sprachige Werk, das bald auch auf Deutsch erscheinen soll. Es hat einen Wandel im Chaco gegeben, pflichtet ihm Eduard Klassen bei, der Vorstand der ASCIM. Die indianische Bevölkerung des zentralen Chaco wuchs in den letzten 50 Jahren von 3.500 auf rund 27.000 Personen, sie machen damit heute die Hälfte der heutigen Einwohner aus, Tendenz steigend. Die Mennoniten stellen noch rund 30 Prozent der Menschen in dem Gebiet - mit steigender Tendenz wandern Latino-Paraguayer ein. Dies ist vor allem den hohen Preisen für Fleisch und Soja geschuldet, aber auch der Infrastruktur der Mennoniten.
Und die Paradigmen haben sich gewandelt. Inzwischen müssen sämtliche politische Vertreter demokratisch gewählt werden, auch die Mennoniten organisieren sich in einer privaten Kooperative, der per Gesetz jeder beitreten kann. Die Kooperative produziert heute agro-industriell und ist zum entscheidenden Wirtschaftsfaktor des Landes geworden. Für den Austausch und die Interaktion gelten heute völlig andere Vorzeichen als noch vor einigen Jahren, viele Dinge sind aber gleich geblieben, analysiert Stahl. Grundsätzlich denken Indigenas „event-zentriert“, während etwa deutschstämmige Personen zeit-zentriert leben, führt er aus. Das wird sich nicht so schnell ändern. In seinem Buch illustriert er diesen Gedankengang am Beispiel des „Tages der Indianer“, der alljährlich am 19. April stattfindet. Wo die einen einem strikten Zeitplan folgen, mit jeweils ausgeschriebenen Programmpunkten, kennen die Indigenas keinerlei zeitliche Programmatik. Jeder nimmt spontan teil, Programm ist, was gerade passiert.
So auch in diesem Jahr. Bei den Nivaclé-Indianern am Rande von Filadelfia gibt es keinen Zeitplan. Die Messe im Zentrum des Reservats beginnt, wenn der Priester zum Gebet ruft. Es kommt, wer gerade in der Nähe steht. Im Anschluss an den Gottesdienst dann ziehen einige Frauen tanzend zum überdachten Dorfplatz - christlicher Gottesdienst und indianischer Tanz, das zeigt die Trennung zwischen Kultur und Religion, erklärt Felix Ramirez, „maestro del education“ der Nivaclé.
Das Dorf kommt zusammen. Kinder stürmen von überall her, alte Frauen mit faltigen Gesichtern und wenigen Zähnen stampfen in einem fremden und geheimnisvollen Rhythmus, tanzen und singen. Immer mehr schließen sich an. Die meisten tragen traditionelle Kleidung, einige haben Holzstöcke in der Hand, an denen Glocken aus Tierknochen ertönen. Dann und wann lässt sich ein Schamane blicken und nimmt an dem jahrhundertealten Ritual teil.
Aber die Verkleidung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dieser indigene Stamm entwurzelt wurde. Die Nivaclé stellen zahlenmäßig die größte Gruppe im Chaco, fast 2000 Menschen leben in „Nivaclé Unida“. Die meisten davon in großer Armut. Viele ihrer Hütten sind provisorisch aus Pappe und Blech gezimmert, seit Jahren beherbergen sie ganze Familien. Kinder laufen barfuß durch schmutziges Wasser und spielen mit dem Müll, der sich auf dem staubigen Boden türmt.
„Es fehlt vor allem an Bildung und Einrichtungen für Kranke“, erklärt Felix Ramirez. Viele der Kinder besuchten bestenfalls die ersten Schulklassen, das genüge kaum, um ausreichend spanisch zu lernen. Die Familien brauchen das Geld und schicken die Kleinen schon früh zur Arbeit. Doch nicht alle finden einen Job bei den örtlichen Milch- und Fleischfabriken. Viele landen irgendwo auf den Feldern oder beim Straßenverkauf. Die ASCIM hat sich die Verbesserung der indianischen Ausbildung auf die Fahnen geschrieben, doch die Hilfe greift nicht überall. Ähnlich verhält es sich bei der Gesundheitsversorgung. „Bewusstseinsmachung“, vorbeugende Behandlung, lokale Gesundheitsposten und ein Krankenhaus wurden geschaffen, um die Not langfristig zu lindern. Aber auch hier kommt die Hilfe nicht immer an. „Versuchen Sie einmal, ein Kind ohne Geburtsurkunde in ein Krankenhaus einzuweisen“, wirft ein Vater ein. Wie viele der Kinder zu Hause geboren wurden und noch nie ein Hospital von innen sahen, kann keiner sagen.
Aber sie wollen sich nicht beschweren, sondern nach vorne blicken. Victor Perez, Präsident der Indianergemeinschaft FRIC in Yalve Sange, spricht von positiven Ansätzen und Zukunftschancen, die sich am Horizont auftun. Zwar befänden sich Kindersterblichkeit und Krankheiten wie die Tuberkulose auf hohem Niveau, doch sinken die Werte kontinuierlich. Auch das Recht auf eigenes Land und Ausbildung im Agrarwesen seien wichtige Fortschritte, die die einst nomadischen Völker entscheidend voran brachten und ihnen eine Zukunft im Chaco sichern sollen. Nur als Gemeinschaft könne man dem Staat auf Augenhöhe begegnen und Interessen adäquat vertreten. Dies gelte aber auch im Bezug auf andere Kulturen, mit denen sich die Indianer ihren Lebensraum heute teilen. „Solidarische Interdependenz“ und „Pluralismus“ lauten die Zauberworte, aber auch „Wettbewerbsfähigkeit“. Denn das Ziel, die verschiedenen Kulturen des Chaco zu erhalten, lässt sich nur verwirklichen, wenn diese auch langfristig selbstständig leben können.

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